Die Brennerbande, Teil 50


Vilet nahm Tiscio bei der Hand und gemeinsam liefen sie die Straße hinunter, weg von den Männern, die sich langsam wieder aufrappelten.
Inzwischen war bereits gerumpel aus den Häusern zu hören und die Stiefel der Bertis schickten ihr stampfendes Echo durch die Straßen voraus. Als sie sich umdrehten konnten sie gerade noch sehen, wie die vier Männer aus der Straße rannten und humpelten. Sie blieben stehen und warteten. Zuerst stürzten die Nachbarn auf die Straße, schließlich erschienen die Bertis. Vilet erklärte allen, die es hören wollten, was passiert war, während Tiscio, der über die Jahre gelernt hatte, sich vor der Metrowacht in Acht zu nehmen, versuchte, sich hinter Vilet zu verstecken und so wenig wie möglich aufzufallen.
Die Bertis begleiteten sie zurück zur Wohnung, wo Tiscios Familie immer noch eingeschüchtert und weinend, aber unverletzt beieinander hockte. Nachdem sich die Bertis alles angehört hatten, was Tiscios Mutter zu erzählen vermochte, verließen sie schließlich die Wohnung mit der Versicherung, "die Sache weiter zu untersuchen".
Nachdem sie gegangen waren, machte Vilet allen ein Abendessen und erst als sie beim Essen zusammen saßen, fiel Tiscio plötzlich der Mann ein, der über das Geländer gefallen war. Er sprang auf, aber seine Mutter hielt ihn zurück: "Wir essen jetzt und du wirst erst aufstehen, wenn wir fertig sind." Natürlich. Man stand nicht einfach vom Essen auf. So viel war klar.
"Aber der Mann, der rausgerannt ist ..."
"Pst." Wieder seine Mutter, aber es war Vilets Blick und leichtes Kopfschütteln, das ihn zum Schweigen brachte. Er musste wohl oder übel geduldig auf das Ende des Abendbrotes warten.
Schließlich räumten sie den Tisch ab und Vilet winkte ihn zu sich. Sie nahm ihn zur Seite und flüsterte ihm zu: "Ich habe ihn vorhin gesehen, bei den Mülleimern. Er hat sich das Genick gebrochen. Ich wollte nicht vor deinen Geschwistern davon sprechen. Sie sind noch verängstigt genug."
"Und was mach‘n wir mit ihm?"
"Erst einmal sehen wir ihn uns an. Komm." Sie gingen schnell hinaus und die Treppe hinunter. Tiscio hatte gerade einen Fuß auf die erste Stufe gesetzt, als er zurückzuckte und sich am Geländer festhielt.
"Warum sind sie eigentlich gestürzt?"
"Es war wohl Glatt. Vielleicht hat einer von ihnen Öl verschüttet."
"Aber ..."
"Psst. Es soll uns keiner bemerken."
Sie fanden den Toten so wie Vilet es beschrieben hatte, zwischen den Abfall, der darauf wartete, dass einer der Lappenwage vorbeikam, um die Straße von seinem Gestank zu befreien. Wenn sie nichts taten, würde er auch die Leiche mitnehmen, ohne viel Aufsehens zu machen. Für die Lappenmänner war es ein hübsches Nebengeschäft, wenn sie eine recht frische Leiche bei der Universität abliefern konnten.
Vilet beugte sich über den Toten und zog ihm das Tuch vom Gesicht. Zum Vorschein kam ein unrasiertes Kinn, nicht viel anders als das von vielen anderen Arbeitern und Schlägern, die man für gewöhnlich außerhalb der Mauer sah. Tiscio kannte diesen Typ zur Genüge. Er hatte auch schon Leichen gesehen. Das blieb in den Fabriken nicht aus. Oder auf der Straße. Er hatte Männer mit zerquetschten Oberkörpern gesehen, durchgeschnittenen Kehlen und eingeschlagenen Gesichtern. Dieser hier war nur ein wenig angekratzt an der Schläfe. Und sein Kopf hing schräger, als es normalerweise üblich war. Trotzdem spürte Tiscio wie sich ein wenig seines Mageninhalts zu seinem Mund hocharbeitete. Vilet kramte währenddessen in ihrer Rocktasche und zog eine Feuerzeug hervor, ein echtes Feuerzeug. Es war nicht besonders schön, aber es war eines jener neuen Geräte, bei denen man nur ein paar Mal an einem Rädchen drehte, und schon hatte man eine Flamme. Kurz darauf flackerte das Licht hinter vorgehaltener Hand.
Sie durchsuchten ihn gemeinsam nach irgendwelchen Hinweisen, wer der Mann gewesen sein mochte, fanden jedoch nichts, bis auf ein paar Groschen und einen plattgehämmerten Pfennig, in den man einen kruden Wappenschild eingestanzt hatte. Es dauerte eine Weile, bis Tiscio begriff. Er hatte die Marke noch nie gesehen, aber in den Jugendbanden wusste jeder, dass es sie gab. Man erhielt sie nur, wenn man bei den Rittern einstieg. Sie zu stehlen oder nachzumachen war ausgesprochen dumm, denn wenn ein echter Ritter einen damit erwischte, dann hatte man Glück, wenn man sich schnell im Hafenbecken wiederfand.
"Du kennst das?" Vilet fragte, nachdem sie ihn eine Weile beobachtet hatte, wie er die Marke anstarrte.
"Das sind Neustädter Ritter. Ich glaube, ich muss morgen was klären gehen."
"Wieso? Meinst du, die waren hinter dir her?"
"Natürlich. Wir hatten da doch das Problem mit den Brennern und Schikmos Hand. Und Schikmo hat sich beim Onkel eingeschleimt und jetzt schickt der seine Ritter, um uns fertig zu machen." Er holte Luft, "Vorhin auf der Straße und jetzt hier. Verdammt. Dann sind die bestimmt auch bei meinen Freunden." Mit einem Ruck wandte er sich ab, wurde aber von Vilet zurückgehalten. "Heute kannst du nichts mehr tun ... pschsch ... beruhig dich. Ich glaube nicht, dass sie dich wollten." Sie stand auf. "Die Lappenfahrer werden ihn mitnehmen. Lass uns reingehen. Du musst morgen früh aufstehen."
Verdutzt folgte Tiscio ihr. "Wieso?"
"Du willst doch deine Freunde sehen, bevor sie zur Arbeit gehen." Sie drückte ihm das Abzeichen in die Hand. Er nahm es ohne Nachzudenken.
Sie gingen ins Haus und Tiscio vergaß all die Fragen, die ihm die ganze Zeit im Hinterkopf gebrannt hatten, bis sie ihm jemand unerwartetes am übernächsten Abend beantworten sollte. Währenddessen spielte seine Hand in der Hosentasche spielte mit dem platten Pfennig.

Die Kinder aus der Feldstrasse, 03